Das Wissen über den Umgang mit Emotionen im Arbeitsalltag kann sehr hilfreich sein. Denn nicht immer ist es angebracht seine Emotionen auszuleben. WissenschaftlerInnen haben nun herausgefunden, dass Emotionen je nach mentaler Perspektive anders wahrgenommen und gelebt werden.
Dr. phil Kurt Stocker
Wie man Studienteilnehmende wütend macht…
Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Studienteilnehmerin oder ein Studienteilnehmer in einem psychologischen Labor. Ihnen wird erklärt, dass es unter anderem darum gehe, wie gut Sie Probleme während dem Musik hören lösen können. Nun werden Sie also mit Musik berieselt und müssen z.B. ein Anagramm lösen – aus den Buchstaben eines Wortes durch Umstellung ein anderes Wort machen (ein Beispiel wäre Kaiser → Karies). Ihnen wird gesagt, dass Sie, wenn Sie die Lösung haben, diese dem Versuchsleiter per Intercom mitteilen können. Insgesamt müssen Sie über zwölf Anagramme lösen.
Nach dem vierten Anagramm sagt der Versuchsleiter übers Intercom plötzlich: “Hören Sie. Ich kann Sie kaum hören. Bitte, ich bin darauf angewiesen, dass Sie lauter sprechen.” Sie sind etwas verdutzt, aber Sie geben Sie sich Mühe und sprechen lauter. Doch nach dem achten Anagramm sagt der Versuchsleiter in ungeduldigem Ton: “Hey, bitte! Ich bin immer noch darauf angewiesen, dass Sie lauter sprechen!” Sie sprechen noch lauter. Aber, kaum zu glauben, nach dem zwölften Anagramm sagt der Versuchsleiter – nun in sehr frustriertem und gehässigem Ton: “Schauen Sie, dass ist jetzt das dritte Mal, dass ich Ihnen das sage. Sprechen Sie lauter!”
Zwei Arten wie wir uns an Episoden erinnern können
Die Versuchsanordnung dieser Studie ist eine Täuschung. Es geht gar nicht darum, den Einfluss der Musik auf die Fähigkeit der Problemlösung zu messen, sondern um den Versuch, bei den (unwissenden) Versuchspersonen Aggressionen auszulösen und diese Aggressionen in der Folge zu untersuchen. In dieser Studie von Mischkowski und Kollegen mussten sich die StudienteilnehmerInnen unmittelbar nach der Provokation in einen von zwei verschiedenen mentalen Perspektiven an das Lösen der Anagramme zurückerinnern.
Alle wurden angewiesen: “go back to the anagram task and see the scene in your mind’s eye” (geh im Geist zurück zur Anagrammaufgabe und betrachte die Aufgabe durch dein geistiges Auge). Danach wurden die einen (28 ProbandInnen) angewiesen: “see the situation unfold through your own eyes as if it were happening to you all over again” (sieh durch deine Augen, wie sich die Situation abspielt, so als ob alles noch einmal passieren würde). Und die anderen (30 ProbandInnen) wurden angewiesen: “move away from the situation to a point where you can now watch the event unfold from a distance…watch the situation unfold as if it were happening to the distant you all over again” (entferne dich von der Situation bis zu einem Punkt, wo sich das Ereignis aus einer Distanz wieder abspielt…betrachte die Situation, als ob sie deinem distanzierten „Dich“ wieder passiert).
Die erste mentale Perspektive nennt sich in der Fachliteratur ‚self-immersed perspective‘ oder ‚embodied mental gaze‘. In dieser Perspektive schaut man in der Erinnerung ‚aus dem eigenen Körper heraus‘ (so wie in Wirklichkeit). Die zweite mentale Perspektive nennt sich ‚self-distanced perspective‘ oder ‚disembodied mental gaze‘. In dieser Perspektive sieht man sich selbst von aussen in der Erinnerung. Das mag exotisch klingen, aber wir sehen z.B. viele unserer Kindheitserinnerungen aus dieser Perspektive.
Gedämpfte Aggression dank ‚disembodied mental gaze‘
Nachdem sich die VersuchsteilnehmerInnen in eine dieser zwei Perspektiven versetzt haben, mussten sie verschiedene Aufgaben lösen, die den Aggressionlevel messen. Die Versuchsteilnehmenden, die sich in einer ausserkörperlichen mentalen Perspektive an das Ereignis zurückerinnerten, hatten im Vergleich zu den Versuchsteilnehmenden die eine innerkörperliche mentale Perspektive eingenommen haben, signifikant weniger aggressive Gedanken, weniger aggressive Gefühle und weniger aggressive Verhaltensweisen. Die neue Erkenntnis ist vor allem, dass eine ausserkörperliche mentale Perspektive Aggressionen sogar “in der Hitze des Gefechts” (also unmittelbar nach der Provokation) beträchtlich dämpfen kann.
Aus einer anderen Studie (Eich und Kollegen) wissen wir, dass eine Erinnerung aus einer innerkörperlichen mentalen Perspektive, im Vergleich zur einer Erinnerung aus einer ausserkörperlichen mentalen Perspektive, eine Struktur im Gehirn, die sich Amygdala (Mandelkern) nennt, viel stärker erregt. Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems, in welchem unsere Emotionen verarbeitet werden. Wenn Gefühle in uns hochkommen, also z.B. wenn wir Furcht oder Wut verspüren, aber auch bei positiven Emotionen, erregt dies immer die Amygdala. Je stärker die Emotion, desto stärker die Erregung der Amygdala.
Versuchen Sie es selbst!
Wenn Sie somit das nächste Mal spüren, wie Wut oder eine andere negative Emotion in Ihnen aufsteigt und Sie es sich in der gegebenen Situation nicht leisten können, diese Emotion auszuleben, probieren Sie Folgendes: Stellen Sie sich – selbst wenn Sie in der Hitze des Gefechts sind – die gegebene Situation so vor wie sie ist, aber betrachten sie sich selbst aus der Distanz. Die aufgeführten Studien legen den Schluss nahe, dass Sie dann viel weniger der Gefahr ausgesetzt sind, von Ihren Gefühlen übermannt zu werden.
Literatur:
Eich E, Nelson AL, Leghari MA, Handy TC (2009) Neural systems mediating field and observer memories. Neuropsychologia 47:2239–2251.
Mischkowski D, Kross E, Bushman BJ (2012) Flies on the wall are less aggressive: self-distancing in the heat of the moment reduces aggressive thoughts, angry feelings and aggressive behavior. Journal of Experimental Social Psychology 48:1187–1191.
Stocker K (2012) Toward an embodiment-disembodiment taxonomy. Cognitive Processing – International Quarterly of Cognitive Science [Advance online publication]