Führen oder geführt werden. Was ist stressiger?

Anfangs der 80er-Jahre schrieb der Psychologe Harry Levinson in einem mittlerweile klassischen Harvard Business Review-Artikel, dass Führungsarbeit (“managing others”) nicht aufhörenden Stress (“unending stress”) kreiere. Stressmanagement für Führungskräfte ist in der Folge zu einer blühenden Industrie gewachsen.

Dr. phil Kurt Stocker

 

Falsch interpretierte Studien als Ursprung der Annahme

Diese weit verbreitete Ansicht – dass Führungsarbeit erhöhten Stress mit sich bringt – wurde in der Psychologie unter anderem auch durch 50er-Jahre-Studien an Rhesusaffen abgeleitet. Rhesusaffen, welche die Möglichkeit hatten, zu kontrollieren, ob sie einen elektrischen Schock erhielten, entwickelten mehr Geschwüre als solche, die keine Kontrolle darüber hatten. Daraus wurde gefolgert, dass mehr Kontrolle mehr Stress bedeute.

Die Interpretation dieser Studienresultate wurde aber später widerlegt, weil man herausfand, dass die Untersuchungsleiter von Anfang an diejenigen Affen für die Kontrollmöglichkeit auswählten, die allgemein mehr emotionale Reaktionen zeigten als andere. Somit kann man aus dieser Studie nichts Genaues darüber ableiten, was die Ursache für die erhöhte Anzahl von Geschwüren war. War es die Ausübung der Kontrolle oder der allgemeine Charakterzug der erhöhten Emotionalität? Heutzutage gibt es gottlob auch andere Methoden, als Affen Elektroschocke und Geschwüre zuzufügen, um mehr über Stress und Kontrolle herauszufinden.

Cortisol im Speichel spiegelt den Stress

Eine neue Harvard-Studie von Sherman und KollegInnen widerspricht auf eine ganz andere Art der weit verbreiteten Ansicht, dass Führungsarbeit – Kontrolle ausüben – mehr Stress bedeutet. Verglichen wurden 148 Führungskräfte (vor allem Personen, die in der Regierung oder im Militär Führungsfunktionen innehaben) mit 65 Angestellten, die keine Führungsfunktion innehaben (z.B. Angestellte, die im Erziehungs- oder Gesundheitswesen arbeiten oder Bauarbeiter). In dieser Studie betrachteten die Psychologen unter anderem die Menge des Stresshormons Cortisol (Speichelanalyse).

Das Ergebnis: Führungskräfte haben einen bedeutend tieferen Cortisolspiegel als Nichtführungskräfte! Da Cortisol das Stressniveau widerspiegelt, heisst das: In dieser Studie waren die Führungskräfte weniger gestresst als Nichtführungskräfte. Ein Oberstleutnant war also weniger gestresst als ein Bauarbeiter, ein CEO weniger gestresst als eine Angestellte im Gesundheitswesen.

Je mehr Kontrolle, je weniger Stress

Aber auch unter den Führungskräften selbst gab es Unterschiede. Die Führungskräfte wurden auch nach dem Ausmass der Kontrolle, das sie über ihre MitarbeiterInnen hatten, befragt. Resultat: Je mehr Kontrolle, desto geringer die Menge des Stresshormons Cortisol.

Vielleicht mögen diese Erkenntnisse überraschen. Es ist aber aus der Psychologie bekannt, dass das Gefühl, in Kontrolle zu sein, den Cortisolspiegel (und somit das Stressniveau) senkt. Dank der Studie von Sherman und KollegInnen können wir davon ausgehen, dass das Hirn eines Angestellten dies auch so sieht: Auf weniger Kontrollbesitz (auf ein hohes Mass an “gemanagt-zu-werden”) reagiert es mit einer grösseren Ausschüttung des Stresshormons Cortisol (wozu es der Nebenniere den entsprechenden „Befehl“ gibt).

Ermöglichen Sie Autonomie!

Man muss aber auch relativieren: Die von Sherman und KollegInnen untersuchten Führungskräfte absolvierten zur Zeit der Studienmessungen alle eine Führungsweiterbildung an der Harvard Universität. Diese Führungskräfte waren also nicht mitten im Führungsalltag drin, der ja oft auch sehr turbulente Seiten haben kann. Es sollte auch auf keinen Fall darum gehen, mit den Resultaten dieser Studie Führungskräfte und Nichtführungskräfte gegeneinander auszuspielen.

Meiner Meinung nach liegt einer der grössten Nutzen der Studie darin, dass sich Führungskräfte die wesentliche Erkenntnis dieser Studie zunutze machen können: je mehr Autonomie sie ihren Mitarbeitern zugestehen, desto weniger bewirken sie einen zu hohen Cortisolspiegel bei ihren Mitarbeitern. Ein nicht zu hoher Cortisolspiegel, auch dies wissen wir aus der Hirnforschung, begünstigt wiederum, dass man klar denken und somit effektiv arbeiten kann.

 

Literatur:

Brady JV, Porter RW, Conrad DG, Mason JW (1958) Avoidance behavior and the development of gastroduodenal ulcers. Journal of the Experimental Analysis of Behavior 1:69–72.

Levinson H (1981) When executives burn out. Harvard Business Review 59:73–81.

Sapolsky RM (2011) Sympathy for the CEO. Science 333:293–294.

Sherman GD, Lee JJ, Cuddy AJ, Renshon J, Oveis C, Gross JJ, Lerner JS (2012) Leadership is associated with lower levels of stress. Proceedings of the National Academy of Sciences  109:17903—17907.

Urry HL, Van Reekum CM, Johnstone T, Kalin NH, Thurow ME, Schaefer HS, Jackson CA, Frye CJ, Greischar LL, Alexander AL et al. (2006) Amygdala and ventromedial prefrontal cortex are inversely coupled during regulation of negative affect and predict the diurnal pattern of cortisol secretion among older adults. The Journal of Neuroscience  26:4415–442